(26.02.2020)
Gut drei Wochen nach vollzogenem „Brexit“ scheint eine fast verdächtige Ruhe eingekehrt, nach Jahren und Monaten heftiger Auseinandersetzungen spielt das Thema derzeit kaum eine Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. Dabei gibt es gute Gründe, sich mit aller Kraft und zügig mit den noch offenen Problemen zu befassen, warnt der LBS-Landesverband Bayerischer Spediteure e.V. Wenn die Hoffnung trügt, dass hinter den Kulissen schon jetzt intensiv an verbindlichen Regelungen gearbeitet wird, droht am Jahresende Chaos im grenzüberschreitenden Gütertransport zwischen EU und UK.
Kein Monat ist vergangenen, seit Großbritannien die Austritts-Glocke aus der EU geläutet hat. Seitdem herrscht in der öffentlichen Wahrnehmung das „Schweigen im Walde“. So sieht sich die bayerische Speditions- und Logistikbranche im Verkehr mit Großbritannien derzeit einem „business as usual“ gegenüber – zumindest gemessen an dem, was in den Jahren der Brexit-Verhandlungen üblich war. Auf den ersten Blick mag das positiv erscheinen. Aber es birgt die Gefahr, dass – vor allem kleinere – Unterneh-men die Herausforderungen nicht sehen oder unterschätzen.
„Bis zum heutigen Tag sind keinerlei Veränderungen spürbar“, sagt Sabine Lehmann, Geschäftsführerin des LBS – Landesverband Bayerischer Spediteure e.V. „Der grenzüberschreitende Warenverkehr innerhalb der EU und mit dem Vereinigten Königreich verläuft uneingeschränkt. Es finden zwar, wie bisher auch, Grenzabfertigungen statt, aber keine Zollkontrollen. Diese wird es voraussichtlich ab dem Jahresbeginn 2021 geben, doch ist das Teil der Verhandlungen zwischen UK und EU – vom Ergebnis her also völlig offen.“ Gerade vor dem Hintergrund, dass es um die Auflösung und Neuordnung einer Verbindung geht, die in dieser Form 48 Jahre Bestand hatte, stellt sich die Aufgabe alles andere als trivial dar.
Verlässliche Regelungen nur bis 31.12.2020
Nach aktuellem Stand dürfte sich, so die Einschätzung des LBS, in vielen Bereichen daran kurzfristig auch nichts ändern. Die aktuelle Rechtslage erlaubt beispielsweise die Durchführung von Transporten mit den geltenden Gemeinschaftslizenzen. „Dass die Regelung mit den Gemeinschaftslizenzen bestehen bleibt, darauf können wir uns zunächst bis zum 31.12.2020 verlassen“, verweist Lehmann auf die vereinbarten Fristen. Danach werden die Lizenzen zunächst einmal erlöschen. Was darauf folgt, ist bislang unbekannt. Theoretisch ist es – wie etwa im Verkehr mit der Schweiz – möglich, Großbritannien in Bezug auf die Genehmigungen weiter so zu behandeln, als wäre es ein Gemeinschaftsland. Das würde vieles vereinfachen. Auch dieses Thema ist Teil der Verhandlungen zwischen UK und EU – vom Ergebnis her also völlig offen.
Wie sieht die Ausgangssituation aus?
- Die Versorgung Großbritanniens mit Importen ist in vielen Bereichen des Alltags Normalität. Diese Selbstverständlichkeit hat dazu geführt, dass UK eingebunden ist in das weit gespreizte Netzwerk internationaler Transportkapazitäten und höchst wahrscheinlich nicht über eine Struktur verfügt, die auf eine Vollabdeckung der Eigenversorgung ausgerichtet ist. Der reibungslos funktionierende internationale Transportfluss ist für das Land daher existenziell.
- International tätige Speditionen stellen sich darauf ein, das UK künftig wie ein anderes Drittland zu behandeln. In diesen Unternehmen sind in der Regel auch Fachkräfte vorhanden, die diese Materie in der verwaltungstechnischen Abwicklung beherrschen. Kleinere Firmen, insbesondere jene, die sich bisher ausschließlich auf Inner-EU-Verkehre konzentrieren, müssen das Knowhow bzw. die entsprechenden Personalkapazitäten allerdings erst aufbauen.
- Ein zusätzliches Thema ist, dass auch die Genehmigungsbehörden, bei denen solche Lizenzen beantragt werden können, erst einmal bestimmt werden und sich dann auf die neue Aufgabe vorbereiten müssen. Dazu benötigen sie zudem die erforderlichen Vorschriften. Für EU-Lizenzen ist ein Landratsamt zuständig, bei Drittländern in der Regel eine Bezirksregierung.
Nur rechnerisch noch 300 Tage Zeit
„Es scheint noch viel Zeit zu sein, in der die EU und das UK eine einvernehmliche Lösung finden können“, sagt Manfred-Jürgen Fichtl, Unternehmer und Vizepräsident des LBS. „Rechnerisch sind es gut 300 Tage. Wenn die Verhandlungspartner die Zeitspanne ausnutzen, bleiben – auch bei Übergangsfristen oder Behelfslösungen – im übertragenen Sinne den Ämtern ein paar Minuten und den Unternehmen ein paar Sekunden, um sich zum Jahreswechsel rechts- und vorschriftenkonform aufzustellen. Die Verhandlungen müssten daher theoretisch viel früher abgeschlossen sein“, so seine Forderung.
Die Erfahrung aus den bisherigen Verhandlungen rund um den Brexit lehrt, dass es keine einfachen und schnellen Lösungen zwischen den Partnern gibt. Daran werde sich auch 2020 nichts ändern, so die Einschätzung des LBS. Fichtl: „Zehn Monate sind vor diesem Hintergrund nicht der Rede wert.“
Zumal es gilt, sehr komplexe Sachverhalte zu klären – im Güter- und Warenverkehr sind das Themen wie Zollregelungen, Genehmigungsverfahren, Zuständigkeiten. Die EU hat Jahre gebraucht, um im „Mobility Package I“ im internen Miteinander auf einen grünen Zweig zu kommen. Es ist unwahrscheinlich, dass man mit einem externen Partner – der zudem eigene Vorstellungen hat – schneller ans Ziel gelangt.
Von verbindlichen Regeln weit entfernt
„Dass Unternehmen unserer Branche – aber auch anderer Wirtschaftszweige – zum Jahresende 2020 durchgängig auf die neuen Regeln zwischen EU und UK eingestellt sind, ist illusorisch“, sagt Lehmann. „Wir können uns nur auf etwas vorbereiten, das wir kennen und das verbindlich geregelt ist. Davon sind wir weit entfernt.“
Was die interne Vorbereitung angeht: Für Prozesse fehlt noch die Anwendungssicherheit, die entsprechenden IT-Systeme werden wohl ein „UK-Update“ brauchen, Qualifizierungsprogramme für die Mitarbeiter müssen generalistisch angelegt werden, aber nicht detailliert. Im besten Fall orientiert sich die Branche daran, was bei Drittländern sonst üblich ist. Allerdings sind die Abläufe und internationalen Regelungen zu komplex, als dass Teil-Lösungen akzeptabel wären. Im Gegenteil: Sie wären Sand im Getriebe des exakt austarierten Systems im globalen Warenverkehr.
Was die verfügbaren Kapazitäten angeht, müssen die Speditionen wegen der zu erwartenden Grenzkontrollen längere Transportzyklen annehmen. Mitarbeiter und Fahrzeuge werden damit länger an einen Auftrag gebunden sein – mit entsprechend höheren Kosten. Lieferketten werden sich verlängern; die zeitkritischen Transporte „just in time“ und „just in sequence“ z.B. für die Automobilindustrie müssen im Zweifel neu kalkuliert werden.
Im schlimmsten Fall droht ein großer Abfertigungs-Stau
„Die Frage, ob zusätzliche Kapazitäten benötigt werden, müssen wir uns zwar stellen, können wir aber noch nicht beantworten“, sagt Fichtl. „Bei einem Brexit zum Jahresende, bei dem es noch offene oder nur vage definierte Regeln gibt, müssen wir im schlimmsten Fall damit rechnen, dass tausende Fahrzeuge und Container auf ungewisse Zeit im Abfertigungs-Stau stehen. Und damit unter Umständen dem Verkehr zwischen anderen Märkten entzogen sind.“
Gleichwohl gilt: Egal, was sich die Vertragspartner einfallen lassen, wird das System „internationaler Warenverkehr“ nicht vollkommen neu erfunden. Der LBS rät seinen Mitgliedsunternehmen daher, sich weiterhin nach bestem Wissen und im engen Austausch mit ihrem Verband sowie externen Experten auf die Zeit nach Inkrafttreten neuer Regelungen vorzuberei-ten. Wenn UK tatsächlich rechtlich und faktisch Drittstaat wird, dann bestünden von Angola bis Singapur eine ganze Reihe von Vorbildern, wie man damit umgehen muss. Lehmann und Fichtl sind zuversichtlich: „Alles Knowhow, das wir jetzt schon aufbauen, alle Bewilligungen, die wir jetzt schon besorgen, werden die Folgen des Brexit bewältigen helfen.“ Damit dieses Knowhow auf die Straße kommen kann, braucht es allerdings zeitnahe, ausgereifte und belastbare Verfahrensregeln seitens der Politik.
Verband wie Mitgliedsunternehmen werden die verbleibende Zeit nutzen, um zu prüfen, was sie heute in der Hand haben: Sind Haftungsvereinbarungen, Versicherungen, Preiskalkulationen und Verträge so ausgelegt, dass sie den Brexit zweifelsfrei abdecken? Die Anbieter von Logistik- und Speditionsdienstleistungen werden Logistikketten überdenken und Lieferzusagen dahingehend überprüfen, dass sich absehbare politisch bedingte Verzögerungen nicht zum Schaden der Unternehmen und der Kunden auswirken.
Fichtl: „Es ist typisch für unsere Branche, mit überraschenden Veränderungen umzugehen und Hindernissen aus dem Weg zu gehen. Das werden wir auch in diesem Fall zu nutzen wissen.“